Welttag der Frühgeborenen 17.11.2021
Kleine Überlebenskünstler und großartige Wissenschaft
Jährlich kommen in Vorarlberg rund 400 Mädchen und Buben lange vor ihrem errechneten Geburtstermin zur Welt. Etwa 40 bis 60 von ihnen bringen weniger als 1.500 Gramm auf die Waage. Morgen, am 17.11.2021, ist Welt-Frühgeborenen-Tag. Der Aktionstag macht zum einen auf die Herausforderungen aufmerksam, die Frühgeborene und deren Familien meistern. Der Tag erinnert zum anderen auch daran, was der medizinische Fortschritt auf diesem Gebiet inzwischen zu leisten vermag.
Als wichtigen Meilenstein wertet Primar Univ. Prof. Dr. Burkhard Simma - er leitet den „Kompetenzverbund für Kinder- und Jugendmedizin Vorarlberg“ - dass die Grenze der Lebensfähigkeit von Frühgeborenen alle sieben bis zehn Jahre kontinuierlich um eine weitere Schwangerschaftswoche gesunken ist und jetzt bei SSW 23 angelangt ist. Als Spezialist für Neonatologie und Kinder- Intensivmedizin am LKH Feldkirch kann Primar Simma berichten, dass Babys, die rund 500 Gramm wiegen, mittlerweile faire Überlebenschancen haben. Innerhalb des Kompetenzverbundes werden die Frühgeborenen an den Landeskrankenhäusern Feldkirch und Bregenz auf den Abteilungen der Kinder- und Jugendheilkunde betreut.
Medizin im internationalen Netzwerk
Vorarlbergs Neonatologen sind im ständigen internationalen Fachaustausch: „Wir sind in ein gutes Netzwerk eingebunden, das sich über den gesamten EU-Raum und auch in die USA erstreckt“, erklärt Primar Simma. „Fachleute erörtern gemeinsam wichtige wissenschaftliche sowie ethische Fragestellungen. Denn eines ist klar: Vor allem in den ersten Minuten im Leben eines Frühgeborenen kommt es auf das optimale Handeln von Fachleuten an. Um unser Wissen und Handeln in diesem komplexen und komplizierten Umfeld zu reflektieren und ständig zu überprüfen und zu verbessern, sind wir über diese nationalen und internationalen Netzwerke auch an klinischen Studien beteiligt.“
Wissenschaft im Kreißsaal
Dadurch macht es die moderne Medizin möglich, dass immer kleinere und jüngere Menschen eine faire Überlebenschance haben: „Wir haben unsere Daten der vergangenen 15 Jahre überprüft und liegen auf dem in Österreich hohen Niveau. Die guten Zahlen verdanken wir dem Einsatz aller Mitarbeiter:innen: von den Ärzt:innen und Pflegefachkräften, über die Sekretärinnen bis hin zu den Raumpfleger:innen und der guten Zusammenarbeit im Land“, betont Primar Simma.
Für die Behandlung der Allerjüngsten gibt es im LKH Feldkirch acht spezielle Kinderintensiv- und vier Kinderüberwachungsbetten (Leitung: OÄ Dr. Anya Blassnig-Ezeh), dazu kommen fünf Überwachungsbetten im LKH Bregenz und weitere acht im Stadtspital Dornbirn. „Unsere neue Kinderintensivstation am LKH Feldkirch haben wir noch kurz vor der Corona-Krise im Februar 2020 beziehen können, und sie macht die Arbeit um vieles leichter“, dankt der Primar den Entscheidungsträgern „und allen Vorarlberger:innen, die das mit ihren Steuerbeiträgen erst möglich machen“.
Risikoreicher Frühstart ins Leben
Neben aller Wissenschaft und dem medizinischen Knowhow kommt bei jedem einzelnen Frühstart ins Leben zusätzlich eine besonders wichtige Komponente ganz deutlich zum Tragen: nämlich die menschliche: „Sämtliche Entscheidungen werden immer zunächst mit den Eltern besprochen und schlussendlich auch gemeinsam getroffen“, unterstreicht der Mediziner. Eltern, die ihr Kind viel zu früh auf dieser Welt begrüßen durften, wissen, dass der Start in ein solches Leben sehr risikoreich sein kann: Je nach Reife der Lunge kann eine Atemunterstützung notwendig sein, die ersten Tage bis zwei Wochen sind geprägt von der Sorge, was die Ultraschalluntersuchung des Kopfes zeigt. „Die Ernährung mit Muttermilch ist schon in den ersten Stunden und Tagen dieser kritischen Zeit immens wichtig. Zusätzliche künstliche Ernährung können wir dem Baby mithilfe einer Infusion verabreichen“, erklärt Primar Burkhard Simma. Besonders auch in dieser sensiblen Phase stehen den Eltern eigens geschultes Fachpersonal und Psycholog:innen zur Seite.“
Selbständiges Trinken und das Halten von Wärme sind dann erste wichtige Schritte in der Entwicklung vor der Entlassung nach Hause.
Extreme Aufmerksamkeit in extremen Zeiten
Die Pandemie hat das Aufmerksamkeits- und Sicherheitslevel auf den Stationen auf allerhöchstes Niveau getrieben. Gebärende können im Kreißsaal keine Masken tragen, für die Neu- und Frühgeborenen gab und gibt es keine Einschränkungen und kein Stillverbot. „Unser Corona-Management hat funktioniert“, betonen sowohl Primar Simma als auch Prim. Univ. Prof. Dr. Christian Huemer. Er ist stellvertretender Chefarzt am LKH Bregenz und Leiter der dortigen Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde: „Gerade im Moment, da sich die vierte Corona-Welle aufbäumt, erfordert jede Geburt - nicht nur jene von Frühgeborenen - extreme Aufmerksamkeit und extremes Sicherheitsdenken“, erklärt Primar Huemer. „Gleichzeitig müssen wir offen bleiben, Vertrauen aufbauen und dem Anspruch der werdenden Mütter gerecht werden, dass sie und ihr Nachwuchs zu jeder Zeit professionell betreut sind.“
Jeder Tag im Mutterleib zählt
Die Ursachen, warum ein Kind lange vor dem eigentlichen Geburtstermin auf die Welt kommt, sind vielfältig. Hierzulande sind Infektionen und Probleme bei der Versorgung des Kindes im Mutterleib die häufigsten. Generell werden Neugeborene, die vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden, als „Frühgeburten“ bezeichnet. Bei jenen, die vor der 32. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm auf die Welt kommen, sprechen die Mediziner von „kleinen“, bzw. „sehr kleinen“ und sogar „extrem kleinen Frühgeburten“, wenn sie weniger als 1.000 Gramm bei der Geburt wiegen. Die Primarärzte betonen, „dass jeder einzelne Tag wichtig ist, den die Kinder länger im Mutterleib bleiben können“.
Große Spannweite der kindlichen Entwicklung
Auch und gerade am Anfang des Lebens können einige Tage mehr oder weniger in der Entwicklung viel ausmachen. Frühgeborene sind nicht automatisch “Spätentwickler“, für manche Entwicklungsschritte muss Rücksicht auf die fehlenden Wochen im Mutterleib genommen und das Alter der Kinder entsprechend „korrigiert“ werden. „Die Spannweite der kindlichen Entwicklung ist ohnehin schon sehr groß“, machen die Mediziner Mut, „auch unter jenen Kinder, die zur errechneten Zeit geboren worden sind“. Geduld, Wissen und Verständnis helfen da meist ein gutes Stück weiter.
Interview mit einer Mama,
die ihren Sohn in der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt gebracht hat:
Konnten Sie sich auf Ihr Frühgeborenes vorbereiten oder war Ihr Baby „ohne Vorwarnung“ zu früh da?
Wir haben ziemlich genau einen Monat vor der Geburt die Information bekommen, dass wir ein Frühgeborenes haben werden. Doch keiner konnte uns sagen, in welcher SSW genau unser Sohn zur Welt kommen würde. Und wir wussten nicht, ob das Kind dann gesund sein wird, ob es Schwierigkeiten haben würde und oder ob es das überhaupt überleben kann. Wir konnten uns also nicht konkret vorbereiten, weil ja jeder Fall komplett anders verläuft.
Was man aber machen kann: seinen Alltag rechtzeitig so umstrukturieren, dass man jederzeit alle Verpflichtungen abgeben kann, um sich für eine längere Zeit um das Neugeborene kümmern zu können.
Wie haben Sie die ersten Stunden und Tage nach der Geburt erlebt?
Erleichterung, dass unser Kind lebt. Verloren, da ich mein Kind nicht bei mir hatte. Hilflos, weil ich meinem Kind nicht helfen konnte. Die Tage nach der Geburt waren sehr anstrengend. Ich konnte nicht wirklich mit meinem Kind kuscheln und litt unter der großen psychischen Belastung.
Was hat Ihnen am meisten Hoffnung gegeben, dass alles gut wird?
Ich hatte immer eine innere Gewissheit, dass mein Kind das alles überleben wird.
Was raten Sie anderen Eltern, die gerade ein Frühgeborenes auf dieser Welt begrüßen durften?
Liebe Mamas und Papas, denkt daran: Im Moment ist nur eure Familie wichtig. Nehmt so viel Hilfe an wie euch gut tut, nehmt sie auch für euch selbst an. Denn nur wenn es euch gut geht, könnt ihr für euer Kind da sein. Genießt jede einzelne Minute mit eurem Kind.
Wie geht es Ihrem Kind heute?
Wir hatten großes Glück und unserem Kämpfer geht es mittlerweile gut. Er entwickelt sich in seinem Tempo und lernt gefühlt täglich etwas Neues.
Vielen Dank und alles Gute.