Mangelernährung als Diagnose 01.06.2022
Erkennen und Behandeln
Es klingt beim ersten Hinhören beinahe absurd, wenn man in unserer vielzitierten Überfluss-Gesellschaft von „Mangelernährung“ spricht. Tatsächlich ist dieses Phänomen insbesondere bei kranken und älteren Menschen ein weit verbreitetes - und ein gefährliches: Rund 35 Prozent aller Patient:innen im Spital sind mangelernährt. Für weitere 45 Prozent ist das Risiko, eine Mangelernährung aufgrund ihres Gesundheitszustandes zu entwickeln, sehr hoch. Umso wichtiger ist es, eine Mangelernährung zu erkennen und als Diagnose wahrzunehmen.
Auf Messmethoden und Möglichkeiten zur Behandlung hat vergangene Woche eine Fortbildungsveranstaltung mit Vorträgen und Teilnehmer:innen aus ganz Österreich am Landeskrankenhaus Feldkirch aufmerksam gemacht.
Fächerübergreifendes Ernährungsteam
„Allein bei uns in der Abteilung für Onkologie sind vier von fünf stationären Patient:innen mangelernährt. Sprich: 80 Prozent unserer Patient:innen haben mit Gewichtsverlust und dessen Auswirkungen zu kämpfen. Im chirurgischen Bereich liegt ihr Anteil immerhin noch bei 50 bis 60 Prozent“, verdeutlicht Mitorganisator und Referent Dr. Patrick Clemens, geschäftsführender Oberarzt der Abteilung für Strahlentherapie und Radio-Onkologie am LKH Feldkirch. Der Facharzt und diplomierte Ernährungsmediziner leitet das bereichsübergreifende Ernährungsteam am Schwerpunktkrankenhaus Feldkirch. Grundlage einer Ernährungstherapie ist die Interdisziplinarität, dementsprechend sind im Team unterschiedliche Abteilungen und Fachrichtungen vertreten: mit dabei sind Ärzt:innen, Pflegefachkräfte, Apotheker:innen sowie Physiotherapeut:innen, Diätolog:innen und Logopäd:innen.
Einmal im Jahr ist „Nutrition Day“
Unter den Patient:innen mit Mangelernährung sind sowohl Menschen, die aufgrund ihres schlechten Ernährungszustandes krank geworden sind, als auch solche, die durch eine schwere Krankheit im wahrsten Sinn des Wortes „ausgezehrt“ sind. Die Zahl an mangelernährten Menschen zeigt sich daher in Gesundheitseinrichtungen besonders deutlich. Einmal jährlich werden diese Daten weltweit ganz exakt erhoben: Am „Nutrition Day“ wird von Österreich ausgehend die Ernährungssituation der Menschen in Spitälern und Pflegeheimen in eine internationale Datenbank eingespeist. Auch das LKH Feldkirch beteiligt sich seit Jahren an dieser Initiative zur gezielten Bekämpfung von Mangelernährung. Ziel ist es, das Wissen und das Bewusstsein dafür in den Gesundheitseinrichtungen zu stärken und die Qualität der Ernährungsversorgung insgesamt zu verbessern. „Zudem veranstalten wir regelmäßig Fachkongresse, auf denen wir uns austauschen und auf den neusten wissenschaftlichen Stand bringen. Nach der Fortbildungsveranstaltung vergangene Woche im LKH Feldkirch dürfen wir gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft für klinische Ernährung (AKE) im Frühjahr 2023 wieder eine internationale Tagung zu diesem Thema im Festspiel- und Kongresshaus in Bregenz ausrichten“, freut sich Dr. Patrick Clemens.
Zu wenig Kalorien und Nährstoffe
Mangelernährung bedeutet ein Zuwenig an Kilokalorien oder auch einen Mangel an Muskelmasse. Oft liegt bei onkologischen Erkrankungen ein hohes Maß an Appetitlosigkeit vor, zumeist als Folge einer Stoffwechselveränderung. Bestehende Erkrankungen – vor allem Krebserkrankungen – steigern das Risiko, eine Mangelernährung zu entwickeln. „Bei onkologischen Patient:innen kann bereits ein kleiner Tumor den Stoffwechsel im gesamten Körper beeinflussen“, erklärt der Facharzt. Prinzipiell kann jede Krankheit, durch die über einen längeren Zeitraum hinweg deutlich zu wenig gegessen wird, zu einer Mangelernährung führen. Manchmal können sich kranke und pflegebedürftige Menschen auch selbst nicht angemessen ernähren und brauchen daher Unterstützung. „Ein oft unterschätztes Problem bei älteren Menschen ist etwa eine Schluckstörung.“
Bewegung und Ernährung hängen zusammen
Vor allem bei älteren Kranken führt die verminderte Nahrungsaufnahme in Kombination mit einem Mangel an Bewegung dazu, dass auch die Muskelkraft abnimmt. Um Leistung zu erbringen, braucht der Körper ausreichend energie- und proteinreiche Nahrung. Bei Ernährungsmangel holt sich der Körper das Eiweiß aus den eigenen Quellen und Reserven, was auch zu einem verstärkten Muskelabbau führt. Von diesem – in der Fachsprache „Sarkopenie“ genannten – Muskelschwund können auch diejenigen betroffen sein, die durch ihren hohen Fettanteil viele Kilos auf die Waage bringen und nach außen hin nicht mangelernährt scheinen. Durch den Mangel an Muskelmasse gelten sie aber trotzdem als mangelernährt: „Gerade wenn jemand viel Gewicht hat, geht die Diagnose oft unter und bleibt unentdeckt“, betont Dr. Clemens. „Patient:innen mit einem BMI von 35 können sehr wohl mangelernährt sein. Man sieht es nur nicht auf den ersten Blick. Wir müssen da genauer hinschauen.“
Nicht erkannte Mangelernährung ist teuer
Die Folgen einer nicht diagnostizierten Mangelernährung sind unter anderem eine schlechtere Wundheilung, höhere Infektanfälligkeit, mehr Komplikationen bei operativen Eingriffen und ungünstige Langzeitprognosen: „Mangelernährte Tumorpatient:innen beispielsweise sprechen schlechter auf eine antitumoröse Therapie an“, verdeutlicht der Ernährungsmediziner. Häufigere und verlängerte Krankenhausaufenthalte schlagen sich wiederum in höheren Kosten für das Gesundheitssystem nieder. Europaweit entstehen dem Gesundheitswesen durch die Folgen von Mangelernährung Kosten von über 170 Milliarden Euro jährlich. Mangelernährung ist eine Diagnose, die, obwohl sie so häufig vorkommt, zu wenig gestellt und beachtet wird. „Das ist ein großes Problem, auf das wir regelmäßig mit unseren Fachveranstaltungen aufmerksam machen. Wir wollen die Sensibilität stärken.“
Ernährungstherapien retten Leben
Kürzlich veröffentlichte Studien untermauern nun erstmals auch mit Zahlen, wie wichtig es ist, diese – oft zusätzliche – Diagnose zu stellen: „Eine Untersuchung in der Schweiz mit über 2.000 Patient:innen hat gezeigt, dass mit gezielter Ernährungstherapie um drei Prozent mehr Spitals-Patient:innen ihre Krankheiten überleben. - Und das bereits während eines Zeitraums von nur 30 Tagen. Daneben haben sich durch eine individualisierte Ernährung auch die Behandlungsergebnisse verbessert, und es sind im Vergleich weniger Komplikationen bei Eingriffen aufgetreten. Wenn man also auch die Mangelernährung behandelt, sind die Chancen, eine andere Krankheit zu überleben, größer“, fasst OA Dr. Patrick Clemens zusammen.
Die richtige Ernährung kann aber nicht nur Leben retten, sondern vor allem auch Lebensqualität schaffen. Daher sind auch an sich gesunde Senioren gut beraten, wenn sie nach einer größeren Operation eine Ernährungstherapie in Anspruch nehmen. Diese hilft dabei, verlorene Muskelmasse wieder aufzubauen. Bewegung wiederum macht hungrig. - Ein gesunder und natürlicher Kreislauf, der dafür sorgt, rascher wieder mobil und fit zu werden.
Abteilungsübergreifende Zusammenarbeit
Erkennt man eine (drohende) Mangelernährung also rechtzeitig, kann man gut gegensteuern und damit auch einen Erkrankungsverlauf aktiv positiv beeinflussen. Dazu ist allerdings zunächst eine Sensibilisierung aller Beteiligten notwendig: „Wir können die Fett- und Muskelzusammensetzung mit verschiedenen, völlig schmerzfreien Methoden messen, etwa mit Ultraschall. Außerdem gibt es Fragebögen, die gezielt auf eine Mangelernährung als mögliche Diagnose hin ausgerichtet sind“, beschreibt Dr. Clemens die Abläufe im Spital. „Liegt dann ein entsprechender Befund vor, können wir für die individuell abgestimmte Kalorien- und Nährstoffzufuhr sorgen.“ Oft kann beispielsweise alleine mit einer unterstützenden oralen Ernährung (sogenannte „Astronautennahrung“) ein Erfolg erzielt werden.
Bei einer optimalen Ernährungstherapie arbeiten die beteiligten medizinischen Berufsgruppen im Idealfall zusammen. Es sollte genau erhoben werden, was und wie viel der/die betroffene Patient:in in genau diesem Moment braucht. Das kann sich je nach Gesundheitszustand innerhalb weniger Tage ändern, beispielsweise am Beginn einer Infektion oder nach einer Operation. In der Onkologie sollte die Untersuchung der Patient:innen auf ihren Ernährungszustand hin Standard sein. Ein Screening, bei dem alle ins Spital eingewiesenen Patient:innen erfasst werden, ist jedoch noch Zukunftsmusik. OA Dr. Patrick Clemens ist aber zuversichtlich und verweist zum Vergleich auf das längst etablierte Modell einer Vorsorgeuntersuchung: „Auf langfristige Sicht zahlen hier die einzelnen Untersuchungen in das gesamte Gesundheitssystem ein. So sehe ich das auch im Bereich der Ernährung.“