35 Jahre Tschernobyl - Gefahren und medizinischer Nutzen radioaktiver Stoffe
Am 26. April 2021 jährt sich die Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl zum 35. Mal. Heute ist die radioaktive Belastung des Bodens in Vorarlberg weitgehend abgeklungen. Eine gesundheitliche Gefährdung ist daher nicht zu erwarten. Die Gesamtbelastung unserer Bevölkerung ist - im Nachhinein betrachtet - geringer ausgefallen, als Experten zunächst befürchtet haben. Was bleibt, ist eine erhöhte Sensibilität gegenüber der Problematik bei Patientinnen und Patienten mit Schilddrüsenerkrankungen.
Vor genau 35 Jahren, am 26. April 1986 ist im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl in der heutigen Ukraine der Reaktor explodiert. Die Folgen sind bekannt – und nicht nur in der Ukraine, sondern auch hierzulande bis heute zu messen.
„Österreich zählte insgesamt nach der Katastrophe zu den am stärksten betroffenen europäischen Ländern“, erinnert sich Univ.-Doz. Dr. Alexander Becherer, heute Primar an der Nuklearmedizin am LKH Feldkirch. Der gebürtige Wiener hat damals als Student „die Nachrichten zunächst nicht als sehr bedrohlich empfunden. Es war sehr mildes Wetter, und wir gingen ein paar Tage später an einen Teich nahe Wien zum Sonnen. Als ich nach Hause kam, hatte mein Vater einen Geiger-Zähler vom Universitäts-Institut für Mineralogie (wo er arbeitete) ausgeliehen. Meine Schuhe zeigten deutlich Strahlung. Da sah ich erstmals den Ernst der Lage. Recht spät erst wurde vor dem Liegen auf Wiesen und dem Aufenthalt im Freien gewarnt.“
Belastung für Körper hierzulande gering
In den ersten Jahren danach war eine - je nach Region - deutliche Erhöhung der Radioaktivität in Pilzen und Wildfleisch nachweisbar. Das dafür verantwortliche Radionuklid ist Caesium-137 mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren: „In Vorarlberg hielt sich die Belastung im einigermaßen erträglichen Rahmen, weil das Bundesland nicht so stark kontaminiert wurde wie andere Gebiete in Österreich (Anm.: Siehe beiliegende Grafik für das Jahr 1986). Nur in unserer nördlichen Landeshälfte war die Cs-137-Kontamination etwas höher“, erklärt Alexander Becherer und beruhigt: „Die Bevölkerung war anfänglich gut sensibilisiert. Zudem ernährt man sich nicht dauernd von Wild und selbst gesammelten Pilzen. Und so war die Belastung unserer Körper so gering, dass dadurch keine gesundheitlichen Auswirkungen zu befürchten sind.“
Praktisch keine Erhöhung mehr messbar
Tatsache ist allerdings, dass etwa in den südlichen Landesteilen Deutschlands bestimmte Speisepilze (beispielsweise der Maronenröhrling) auch heute noch einen deutlich erhöhten Gehalt an Cs-137 aufweisen. „Der Steinpilz gehört übrigens nicht dazu. Beim Wildbret ist besonders das Wildschwein belastet. Auch hier ein Vorteil für Vorarlberg, weil diese Wildart bei uns kaum ins Gewicht fällt.“
Heute, 35 Jahre später, ist in Vorarlberg praktisch keine Erhöhung der Cs-137-Aktivität mehr messbar (Anm.: Siehe beiliegende Grafik für das Jahr 2021). Das Bundesministerium für Klimaschutz sieht in den gemessenen Werten für Österreich keine gesundheitlichen Bedenken. Die Dichte an Messstellen ist in Vorarlberg übrigens besonders hoch.
Schilddrüsenkarzinome und Autoimmunerkrankungen
Sieht man sich die entsprechende Statistik an, hat sich das Reaktorunglück nach Angaben des Mediziners in Vorarlberg nicht erkennbar auf die Gesundheit ausgewirkt: „Gottseidank. Das Schilddrüsenkarzinom zeigt zwar eine seit Jahren langsam steigende Inzidenz, die ist aber auch in Regionen zu beobachten, wo gar kein sogenannter Fallout nach der Katastrophe war. Die Zunahme ist auf die immer besser werdende Diagnostik und die häufigeren Routineuntersuchungen - etwa zur Vorsorge - zurückzuführen. Die Sterblichkeit am Schilddrüsenkarzinom nimmt sogar ab.“
Auch was Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse betrifft, beobachtet der Primar eine leichte Zunahme. Die hänge aber mit der besseren Jodversorgung durch die Erhöhung der Jodierung des Kochsalzes um das Jahr 1990 zusammen: „Das hat aber wiederum auch den positiven Effekt, dass gutartige Kröpfe und bestimmte aggressivere Formen des Schilddrüsenkarzinoms seltener wurden - trotz Tschernobyl.“
Tschernobyl noch heute Thema
Natürlich wird das medizinische Personal der Nuklearmedizin hie und da von Patientinnen und Patienten nach einem möglichen Zusammenhang eines Schilddrüsenknotens mit Tschernobyl gefragt. Primar Becherer kann einen solchen aber bei denjenigen, die ab Ende der 80er Jahre geboren worden sind, mit Sicherheit ausschließen, weil damals die für die Schilddrüse relevanten radioaktiven Nuklide des Jods bereits zerfallen waren. „Und bei den damals Erwachsenen ist ein Zusammenhang unter anderem deshalb mit großer Sicherheit auszuschließen, da der Schilddrüsenkrebs nach der Katastrophe nur bei Kindern und Jugendlichen eindeutig anstieg – und das in der Umgebung des Kraftwerks, die von der Verfrachtung des Materials am stärksten betroffen war, also die nördliche Ukraine und angrenzende Gebiete in Weißrussland. Seit damals wissen wir übrigens, dass die Einnahme von Jodtabletten wirklich schützt, weil dort, wo sie verteilt wurden, der Schilddrüsenkrebs nicht häufiger wurde.“
Radiojodtherapie seit genau 80 Jahren
Kleinen Mengen an natürlicher Radioaktivität ist übrigens jedes Lebewesen auf unserer Erde ausgesetzt. Sie kommt im Boden vor, sogar in unserer Nahrung und in der Atemluft. In der Medizin macht man sich die Wirkung von Radioaktivität schon seit vielen Jahrzehnten zunutze. Alexander Becherer hat die Erfahrung gemacht, dass nur wenige Patientinnen und Patienten so eine Behandlung ablehnen, weil sie sich zu große Sorgen wegen der Strahlung machen: „Vor einer Therapie mit radioaktiven Stoffen ist deshalb eine gute Aufklärung wichtig“, betont der Primar. „Mit den unzähligen Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit im Hintergrund gelingt es gut, allfällige Bedenken zu zerstreuen.“
Die älteste und häufigste dieser Behandlungen feiert übrigens heuer ein Jubiläum: die Therapie der Schilddrüsenüberfunktion mit radioaktivem Jod, kurz „Radiojodtherapie“ genannt, wird seit 1941 und damit seit genau 80 Jahren durchgeführt.
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